Das Wissen darüber, ob und wie Menschen mit Multipler Sklerose sich körperlich betätigen sollen, ist noch nicht hinreichend verbreitet. Unsicherheiten bestehen sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch bei deren Neurologinnen und Neurologen. Das Rehazentrum Valens bemüht sich um Aufklärung und informierte am vergangenen Donnerstag gemeinsam mit der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft über das Thema.
Eröffnet wurde die Veranstaltung von Dr. Roman Gonzenbach, Chefarzt der Neurologie im Rehazentrum Valens, und Rafael Altorfer von der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft, der auf das breite Beratungsangebot für Betroffene hinwies. Dr. Jens Bansi, Leiter Forschung und Entwicklung im Bereich Therapien, erklärte die positiven Auswirkungen der körperlichen Bewegung aus wissenschaftlicher Sicht und berichtete von aktuellen Studienergebnissen mit MS-Patientinnen und -Patienten. Marie Kupjetz, Physiotherapeutin im Rehazentrum Valens, informierte über ein aktuelles MS-Forschungsprojekt.
«Teufelskreis Inaktivität» durchbrechen
Dr. Gonzenbach eröffnete den Nachmittag und stellte in seinem Vortrag den «Teufelskreis Inaktivität» ins Zentrum. Er erklärte anhand eindrücklicher Beispiele, warum gerade MS-Betroffene bewusst «gegen körperliche Inaktivität vorgehen» müssten. Denn die Krankheit führe in vielen Fällen dazu, dass Patientinnen und Patienten beispielsweise Gangbeschwerden entwickeln oder aufgrund einer Fatigue rasch erschöpft sind und deshalb weniger schnell und weniger weit gehen. Somit nimmt die körperliche Aktivität und damit die Muskelkraft und Ausdauer ab, was sich weiter negativ auf das Gehen auswirkt. Und je schwieriger es wird, desto mehr vermeiden die Betroffenen das Gehen. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen.
MS-Betroffene erzielen während der Rehabilitation meist gute Fortschritte, sodass der Gehtest am Ende des Aufenthaltes besser ausfällt. Zu Hause werden diese Zugewinne jedoch wieder eingebüsst, wenn das Training nicht beibehalten wird. Daher lautete Dr. Gonzenbachs Empfehlung: «Wichtig ist, dass Sie das Richtige für sich finden. Es muss etwas sein, was Sie gerne tun und was Sie gut in Ihren Alltag integrieren können.» In diesem Zusammenhang erwähnte Dr. Gonzenbach auch das Programm «Bliib dra» des Rehazentrums Valens, das eigens zu diesem Zweck eingeführt wurde: eine Broschüre mit Fragebögen, Checklisten und Raum für Zielformulierungen, mit denen Patientinnen und Patienten ihre körperlichen Aktivitäten für die Zeit nach der Reha festlegen und kontrollieren können.
Sport ist bei MS uneingeschränkt zu empfehlen
Anders als noch vor einigen Jahren, ist die Studienlage heute eindeutig: Körperliche Aktivität in mittleren und hohen Intensitäten ist bei Multipler Sklerose ein wichtiger Faktor, um die Mobilität zu erhalten. Es gebe keine Hinweise darauf, dass die Gehfähigkeit, Spastiken oder die MS-typische Fatigue sich aufgrund von körperlicher Bewegung verschlechtern könne, so Dr. Gonzenbach: «Ein kurz nach der Anstrengung auftretendes Muskelzittern oder eine vorübergehende Erschöpfung lassen kurz nach der Aktivität nach, und im Anschluss fühlen sich die Patientinnen und Patienten immer besser als vorher. Aufgrund dieser Beobachtungen und auf Basis von wissenschaftlichen Studien empfehlen wir körperliche Aktivität jedem und jeder Betroffenen. Die Befürchtung, Sport könnte Schübe auslösen oder die Entzündungsherde im Gehirn vergrössern, ist unbegründet, so etwas wurde nicht beobachtet.»
Empfehlungen der WHO als Anhaltspunkt nutzen
Bei der Frage, wie viel Bewegung bzw. Sport gut ist, seien die allgemeinen Empfehlungen der WHO ein guter Anhaltspunkt: Jeder und jede Erwachsene sollte sich 2,5 Stunden pro Woche bei mittlerer Intensität bewegen (beispielsweise bei leichter Gartenarbeit, bei Spaziergängen oder beim lockeren Velofahren) oder 1,25 Std. pro Woche bei hoher Intensität (Beispiele wären Joggen, Tennis oder ein Training am Ergometer oder Rudergerät). Wer kann und mag, wählt eine Kombination von mittlerer und hoher Intensität und baut zusätzlich 2 bis 3 Mal pro Woche ein Krafttraining ein. Der Nutzen für die Gesundheit steige dabei mit der Anzahl der Bewegungsminuten. Dies gelte, wie Dr. Gonzenbach präzisierte, für gesunde Menschen ebenso wie für chronisch kranke Menschen – und eben auch für MS-Betroffene.
Bewegung bringt diverse gesundheitsförderliche Prozesse in Gang
Dabei sei es unwichtig, welche körperliche Aktivität oder Sportart jemand ausübt. Wichtig sei, dass die Prozesse in Gang gebracht werden, die Bewegung im Körper auslöst: Beispielsweise die Erhöhung der Sauerstoffaufnahme oder die Zunahme des Blutvolumens, der Muskelkraft und der Geschicklichkeit. «Es gibt spezialisierte Angebote und Geräte für jede Art von Einschränkung. Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, wird er andere sportliche Aktivitäten ausüben als jemand, der fit zu Fuss ist. Lassen Sie sich von einem spezialisierten Physiotherapeuten beraten, um auszuloten, wie Sie Ihre Vorlieben mit Ihren Möglichkeiten vereinen können. Denn nur was Sie gerne machen, machen Sie auch langfristig und regelmässig», so Roman Gonzenbach.
Trainingspausen sind bei MS schwerer zu kompensieren
«Langfristig» und «regelmässig» waren auch zentrale Stichwörter im Vortrag von Dr. Jens Bansi. Seine kürzlich veröffentlichte MS-Studie und andere neuere Arbeiten haben eindrücklich gezeigt, dass individuell angepasste Bewegungsprogramme bei Menschen mit MS das Fortschreiten vieler Symptome verlangsamen kann. Wie Bansi erklärte, kommt dabei der Regelmässigkeit eine tragende Rolle zu: «Entscheidend auf lange Sicht ist, dass die Betroffenen das Ziel verfolgen, einen bestimmten Referenzwert in ihrer Fitness zu halten. Denn ihr Organismus kann schwächende Einflüsse, wie eine Erkältung oder längere Trainingspausen, weniger gut kompensieren. Im Vergleich zu einem gesunden Menschen brauchen sie viel länger, bis sie wieder ihr altes Niveau erreichen – wenn sie es überhaupt schaffen. Deshalb ist die stetige Bewegung, das Dranbleiben, so ausserordentlich wichtig für den Krankheitsverlauf bei MS.»
Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems und kann schwere Beeinträchtigungen hervorrufen. Rund 15’000 Menschen sind in der Schweiz von dieser unheilbaren Krankheit betroffen, jeden Tag erhält eine Person die Diagnose MS.
Das Abwehrsystem des Körpers (Immunsystem) spielt bei MS eine zentrale Rolle. Es schützt den Körper vor Krankheitserregern, wenn diese in den Körper eindringen. Einige dieser Immunabwehrzellen sind bei MS fehlgeleitet und greifen fälschlicherweise körpereigene Substanzen im zentralen Nervensystem (ZNS = Gehirn und Rückenmark) an und schädigen dieses. Bisher konnte jedoch kein einzelner Faktor als alleiniger Auslöser identifiziert werden.
Die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft bietet eine breite Palette an Beratungs-, Informations- und Weiterbildungsangeboten für Betroffene und Angehörige: www.multiplesklerose.ch
(Quelle: Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft)
CYPRO – Cycling in Primary Progressive Multiple Sclerosis
Im Rehazentrum Valens läuft aktuell eine MS-Studie, in die Marie Kupjetz in ihrem Vortrag Einblick gewährte. In dem Forschungsprojekt wird die Wirksamkeit von zwei unterschiedlich intensiven Ausdauertrainingsformen auf dem Ergometer auf körperliche Fitness, Symptome und das Krankheitsgeschehen bei Personen mit primär progedienter Multipler Sklerose untersucht. Körperliche Aktivität ist auch hier ein therapeutisches Schlüsselelement, da Betroffene insbesondere unter motorischen Symptomen leiden. Funktionelle Tests im Rahmen der Studie zeigen bereits Trainingserfolge.
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