An einer Teambesprechung in der Neuropsychologie teilzunehmen, ist eine spannende, aber auch anspruchsvolle Angelegenheit. Da fliegen Wörter wie Aphasie, Agnosie, Amnesie oder Apraxie durch den Raum – alles Gehirnfunktionsstörungen, die sich die Voilà-Redaktion genauer erklären liess. Erklärungsbedürftig ist aber noch einiges mehr von dem vielfältigen Aufgabengebiet der Neuropsychologie.
«Zeigen Sie bitte auf das Nashorn auf diesem Blatt.» Diesen Satz sagen die Teammitglieder von Prof. Dr. phil. Peter Brugger, Leiter Neuropsychologie im Rehazentrum Valens, relativ häufig. Denn er ist Teil des sogenannten MoCA-Tests (Montreal Cognitive Assessment). Dabei handelt es sich um ein kurzes Screening-Verfahren, mit dem das Team verschiedenen Gehirnfunktionsstörungen auf die Spur kommt. Aus den Antworten zu den MoCA-Aufgaben ergibt sich ein erstes Bild des neuropsychologischen Zustandes einer Patientin oder eines Patienten. Weitere Eingrenzungen und Unterscheidungen folgen, bis am Schluss die Diagnose vorliegt und mit der passenden Therapie begonnen werden kann.
«Was macht ihr eigentlich?»
Was Neuropsychologen dabei aber im Detail machen, das müssen Peter Brugger und sein Team uns erklären. In den Kliniken Valens wird vorwiegend klinische Neuropsychologie betrieben – eine der gängigen Definition dieses Fachgebietes lautet: «Klinische Neuropsychologie befasst sich mit Störungen des Denkens, Handelns und Erlebens nach Erkrankungen oder Verletzungen des Gehirns.» Oder anders gesagt: Es geht um die Diagnose und das anschliessende Therapieren von Defiziten und Einschränkungen nach einer Hirnschädigung. Solche Hirnfunktionsstörungen treten häufig nach einem Schlaganfall auf, aber auch nach Unfällen, bei neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Parkinson sowie bei bestimmten Formen von Demenz. Die Einschränkungen betreffen dann beispielsweise das Sprechen, das Erkennen von Formen oder auch die Ansteuerung oder das Benennen bestimmter Körperteile.
Diagnose, Therapie & Forschung
Nachdem die jeweilige Störung diagnostiziert wurde, kommen für deren Behandlung therapeutische Methoden zum Einsatz, die den Betroffenen dabei helfen, ihre Fähigkeiten wieder zurückzuerlangen oder zumindest zu verbessern. Dabei steht immer die Frage im Mittelpunkt, ob und wie eine Patientin oder ein Patient wieder zurück in den Alltag findet, allein zu Hause wohnen kann oder Hilfe benötigt. Daneben treibt das Team der Neuropsychologie hauseigene Forschungsprojekte voran, um neue Erkenntnisse für die Behandlung der diversen neuropsychologischen Syndrome zu gewinnen.
Klinische Neuropsychologen sind also Diagnostiker, Therapeuten und Forscher. Letzteres ist ein nicht unwesentlicher Teil der Arbeit der Neuropsychologinnen und -psychologen in Valens. Peter Brugger war vor seiner Zeit in Valens Leiter der Neuropsychologischen Abteilung im Unispital Zürich, und er hat nach wie vor eine Professur an der Universität Zürich inne – die Forschung auf seinem Fachgebiet ist ihm ein besonderes Anliegen. Und so wird auch die Teamsitzung mit dem Thema Forschung eröffnet. Dabei stellt sich die praktische Frage, wie die Daten auf dem Forschungsblatt einer laufenden Studie noch sinnvoller angeordnet werden können. Denn während der Patient oder die Patientin eine Aufgabe löst oder eine Therapieeinheit absolviert, wird das Datenblatt mit vielen Details gefüttert; und was nicht draufsteht, das wird später auch nicht ausgewertet – so können der Forschung allenfalls wichtige Erkenntnisse entgehen.
Ein Beispiel: Das Übersehen von linksseitigen Reizen kann auf einer ungenügenden Aufmerksamkeit nach links hin beruhen oder auf einer übersteigerten Aufmerksamkeit nach rechts. Wird dieses wesentliche Detail nicht erfasst, gehen Informationen verloren, die für andere Therapieteams oder das Pflegepersonal möglicherweise wichtig wären. Im Fall der «Hyperaufmerksamkeit» nach rechts ist es z. B. kontraproduktiv, das Nachttischchen einer Patientin an die rechte Bettseite zu stellen, weil diese dann noch vorherrschender wird und die Vernachlässigung alles linksliegenden noch ausgeprägter.
Nase rümpfen in der Fallbesprechung
Nächster Punkt: Fallbesprechung. Ein Patient, nennen wir ihn Herrn A., hatte einen linksseitigen Hirnschlag und zeigt ungewöhnliche Defizite in Mimik und Sprache. Er kann nicht die Nase rümpfen; zumindest nicht, wenn man ihm sagt, er solle es machen. Ebenso verhält es sich mit «Backen aufblasen» und «Brauen heben». Spontan aber gelingen ihm die passenden Bewegungen mühelos; etwa, wenn er Ekel empfindet oder plötzlich überrascht wird. Damit kann das Team eine Lähmung der betroffenen Gesichtsareale ausschliessen und der Verdacht auf Gesichtsapraxie, eine Störung in der Ausführung zielgerichteter Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, erhärtet sich.
Herr A., er ist Rechtshänder, wurde auch gebeten, Gegenstände, die ihm unter dem Tisch in die linke Hand gegeben wurden, zu benennen. Büroklammer, Spanisches Nüssli, Schraubenmutter: Alles wurde hinreichend gut benannt. Dies ist nicht selbstverständlich, da das Magnetresonanzbild im vorderen Bereich des Balkens (des grossen Nervenfaserbündels, das die beiden Hirnhälften miteinander verbindet), eine Einblutung zeigte. Wäre die Funktion dieses Balkenabschnittes beeinträchtigt gewesen, wären die Tastinformationen aus der linken Hand zwar in der rechten Hirnhälfte angekommen, Herr A. hätte aber nicht sagen können, wie die Objekte heissen; denn für das Benennen ist bei Rechtshändern die linke Gehirnhälfte zuständig.
Das Team der Neuropsychologie muss gerade bei älteren Menschen oft auch abklären, ob eine beginnende Demenz vorliegt. Falls ja, müssen die Einschränkungen ganz anders interpretiert werden, als wenn «nur» Funktionsstörungen beobachtet werden, die durch den Schlaganfall verursacht wurden. Bei Herrn A. konnte eine Demenz hinreichend ausgeschlossen werden, sodass sich Peter Brugger und sein Team einig sind: Der Patient leidet unter einer isolierten Gesichtsapraxie und die Therapie kann dementsprechend geplant werden.
Tausendundein Störungsbild
Der Fall von Herrn A. ist in Wirklichkeit um einiges komplexer, als hier dargestellt: Es zeigten sich bei ihm noch weitere einzelne Defizite in verschiedenen Funktionsbereichen. Manchmal ist es nicht einfach, über die Vielfalt an Einzeldefiziten zu einem einheitlichen Störungsbild zu gelangen. «Störungsbilder zeigen uns die Gesamtheit einer Hirnfunktionsstörung, die einzelnen Symptome stellen jeweils lediglich ein Bildelement dar», erklärt Peter Brugger. Es sei die Kunst der klinischen Neuropsychologie, ein Störungsbild in seiner Gesamtheit zu erklären. Dabei müssen z. B. auch kulturelle Unterschiede oder der individuelle Bildungsstand berücksichtigt werden.
Für die Betroffenen und deren Angehörige ist jede neurologische Störung oder Einschränkung ohne Zweifel eine grosse Belastung. Für Fachleute und interessierte Laien können sie aber auch faszinierend sein, schliesslich geht es um das menschliche Gehirn, das einem noch weitgehend unentdeckten Kontinent gleicht. Eine kleine Auswahl aus der Vielzahl von möglichen Störungsbildern, mit denen sich Neuropsychologen beschäftigen, hat Peter Brugger mit Doktoranden der Universität Zürich und einer Künstlerin in einem «Neuropsychologie-Quartett» erarbeitet. Es soll Interessierte spielerisch mit den Störungsbildern vertraut machen. Aus den acht Kategorien, die das Quartett illustriert, haben wir jeweils eines der vier zugehörigen Störungsbilder ausgesucht und stellen sie hier vor.
Facts zum Fachgebiet
Neuropsychologie in den Kliniken Valens
Das Denken, Erleben und Verhalten unserer Patientinnen und Patienten mit erworbener Hirnschädigung steht im Mittelpunkt der neuropsychologischen Tätigkeit an den Standorten Valens und Walzenhausen. Unsere Neuropsychologinnen und -psychologen wenden spezielle Untersuchungsverfahren an, um kognitive Funktionen (z. B. Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit), Verhaltensaspekte (z. B. Antrieb, Impulskontrolle) und psychisches Befinden zu erfassen. Auf dieser Grundlage werden unsere individuell angepassten therapeutischen Interventionen entwickelt.
Neuropsychologische Diagnostik
Neuropsychologinnen und -psychologen klären vermutete oder bekannte hirnorganische Störungen ab. Diese können unterschiedliche Ursachen haben, in der Regel sind dies durch Krankheit oder durch einen Unfall entstandene Schädigungen. Die neuropsychologische Diagnostik umfasst eine eingehende Abklärung zum Beschreiben und Quantifizieren von kognitiven Störungen, etwa in den Bereichen Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Denken und Planen. Auch Persönlichkeit, affektives Erleben und die Verarbeitung des Krankheits- oder Unfallgeschehens sind wichtig für das neuropsychologische Funktionieren.
Neuropsychologische Therapie
Neuropsychologische Therapie strebt das Wiedererlangen von Funktionen an, die nach einer Schädigung des Gehirns durch Unfall oder Krankheit verloren gegangen sind. Die Kliniken Valens sind führend in ihrem Angebot an individuell ausgerichteter Therapie von Einschränkungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Lernen und Erinnern, Wahrnehmen und Handeln sowie Kommunikation und Planung. Die Therapie kognitiver Defizite hat oft spielerische Elemente. Sie kann am Tisch mit Papier und Bleistift erfolgen, einfache Hilfsmittel mit einbeziehen oder auch auf computerisierte Programme zurückgreifen.
Neuropsychologische Forschung
Wie können wir unter Tausenden von Gesichtern ein uns vertrautes sofort wiedererkennen? Welche Hirnstrukturen sind am Lesen beteiligt, welche sind unerlässlich für den Umgang mit Zahlen? Was passiert im Gehirn, wenn wir etwas Neues lernen, wenn uns ein Wort nicht einfällt, obschon es uns «auf der Zunge» liegt? All diese Fragen wollen erforscht sein, wenn wir verstehen sollen, wie man Menschen am besten helfen kann, die nach einer Hirnschädigung nicht mehr spontan entscheiden können, die nach Wörtern suchen müssen, den Orientierungssinn verloren haben oder die Fähigkeit, vertraute Gesichter zu erkennen, zu lesen oder zu rechnen.
Dieser Artikel ist im Voilà-Magazin Herbst/Winter 2021 erschienen. Das ganze Magazin können Sie hier lesen oder downloaden. Auf unserer Rätsel-Seite haben wir eine Wahrnehmungsaufgabe für Sie. Drucken/probieren Sie sie gleich aus. Sie werden staunen, wie uns unser Gehirn an der Nase herumführen kann.